Texte

Aktuelle Infos: www.marlenegoelz.com

 

Die Erzählungen "Viele Frauen" und "Neues Leben" kann man hier lesen. Alles andere ist im Werden, verändert sich, bleibt Entwurf, ein Gedicht oder wurde ein Bild.

Viele Frauen

 

Wir reden nicht mehr miteinander. Wir schreiben uns auch nicht mehr, nur Terminliches bezüglich der Kinder. Wir halten uns an alle Abmachungen: der Trennungstherapeut gab uns das mit auf den Weg. Er hätte es richten sollen, das, was nicht mehr geradezubiegen war, beziehungstechnisch betrachtet.

 

Einmal im Jahr treffen wir uns. Der Therapeut weiß nichts davon, aber den brauchen wir schon lange nicht mehr, es gibt nichts zu therapieren. Auch sonst erzählen wir keinem, dass wir uns treffen. Es ist nicht wichtig, oder würde niemand verstehen. Wo wir sonst doch getrennte Wege gehen, im Gleichklang, aber getrennt. „Ist besser so“, hatten wir uns gesagt vor Jahren, immerhin etwas, worüber wir uns einig waren.

 

Es ist der 24. März. Ein Atomkraftwerk brennt. Die Luft ist kalt, aber das Licht, das Licht ist wie damals. Ich streiche über das gotische schmiedeeiserne Gitter und den Türgriff, diesen kuriosen Kopf eines Fabelwesens. Die Zunge lässt sich bewegen, kaum jemand weiß das, nur Personen, die vor diesem Portal schon gewartet haben und die, die es von Zeit zu Zeit reinigen.

 

Der Platz vor der Kirche ist leer, es ist 15:11. Krzysztof würde doch nicht vergessen haben? „Morgen?“ hatte er am Vortag noch geschrieben, und ich hatte geantwortet: „Morgen.“ Die Sirene heult. Jedes Mal wenn sie losgeht, fürchte ich das 3 Minuten-Signal. Den Kindern habe ich gesagt, was in dem Fall zu tun wäre. Sie klingt wieder ab.

Ich sehe ihn kommen. Unter Tausenden würde ich ihn von Weitem erkennen. Die Hände in die Manteltaschen vergraben, den Kopf in den Kragen gesteckt. Wind ist kälter als Schnee. Er trägt eine Mütze. „Entschuldige“, sagt er, und küsst mich auf die Wange. „Es ist kalt. Gib mir deine Hände.“ „Ja, kalt ist es“, antworte ich. Er umfasst meine immer kalten Hände und legt sie in seine immer warmen.

 

Ich öffne das Portal. Hallen, die mir heilig sind. Statt Weihwasser, in das ich meine Finger nie tauchen würde, Desinfektionsmittel. Niemand sonst scheint hier zu sein. Diese Stille. Durch das Kirchenfenster, das den vom Pferd gefallenen Saulus zeigt, fällt warmes, buntes Licht. Vor einem der Seitenaltäre liegt eine Decke, auf der ein Korb mit Kinderbüchern steht.

 

Krzysztof wirft eine Münze in die Schachtel, auf der DANKE steht. Ich entzünde ein Teelicht. Dann stehen wir eine Weile da. Unser jüngstes Kind ist gestorben. Es wäre sechs Jahre alt und ginge in die 1. Klasse. Fehlgeburt, nichts weiter. „Viele Frauen haben eine." Unsere Beziehung hat das nicht überlebt. 

 

Krzysztof legt seine Hand auf meine Schulter, Arm in Arm gehen wir in den hinteren Trakt der Kirche. Die Holztür ist nur einen Spalt breit offen. Krzysztof drückt sie auf und neigt den Kopf, er ist zu groß für mittelalterliche Gänge. Ich passe gerade so durch. Dunkel ist es. Bis sich unsere Augen daran gewöhnt haben, tasten wir uns an den Steinwänden vorwärts. 

 

Ein Geheimgang, der nirgendwohin führt. Nur hinauf. Die untersten Stufen sind abgetreten, bald trennen sich die Wege. Zwillingswendeltreppe, es gibt nicht viele davon. Ich gehe links, Krzysztof geht rechts herum. Ein Schneckengehäuse, die Wege führen immer wieder zusammen. Nach oben hin wird es heller. Ich strecke mich und kann das Gewölbe berühren. Sonst ist da nichts, nur ein hüfthohes Gitter.

 

„Schönes Treppenhaus“, hatte Krzysztof gesagt damals, als wir uns auf dieser Treppe  kennenlernten. Er hatte sich abgeseilt, von seiner Studiengruppe. „Bist du von hier?“ fragte er. „Fast“, antwortete ich, während ich mir die Arbeitshandschuhe auszog und das Klebeband von der Kreuzrippe entfernte. Im Café am Platz schrieb er seine Handynummer auf eine dieser dünnen Servietten. So hat alles begonnen.

 

„Wir hätten heiraten sollen, damals“, sagt er jetzt und stützt sich auf das Gitter. „Nicht“, sage ich und greife nach seinen Händen. Ich lehne meine Stirn an seine Schulter. Es klingelt. „Wo bist du?“ „Ich komm gleich.“ „Wann hab ich Klavierstunde?“ „Um vier.“ „Ich muss los, Krzysztof“, sage ich. „Ja“, sagt er und dass er am Freitag die Kinder wie vereinbart zu sich holen werde.

 

(erschienen im Herbst 2022 in der Literaturzeitschrift "Die Rampe")

Neues Leben 

 

So muss es sein, wenn man sein Leben hinter sich lässt. Stefan schließt die Tür auf und betritt das frisch gestrichene Appartement, das noch nach Wochen wie frisch gestrichen riechen wird. In der Küche ein originalverpackter Wasserkocher. Er legt Jeans und T-Shirts in den leeren Schrank, für manche Wetterlagen nicht gerüstet. Handy, Pass, Kreditkarte. Da steht er, allein, wie in einem Möbelhaus-Schauraum. Weiß nichts mit sich anzufangen und geht einkaufen. Salz, Brot, Butter, Konserven, Bier und einen Vorrat Schokolade. Eine Flasche Sekt steht im Kühlschrank, wohl zum Einstand feiern. Drei verpasste Anrufe. Ungelesene Nachrichten. Wieder vibriert das Handy, er schaltet es stumm. Das schwarze Ledersofa ist kalt, er setzt sich in den Sessel, die Füße auf den gläsernen Couchtisch. Er ist hier ein anderer. Auf dem laminierten Parkett ein Kuhfell. Die Zimmerpflanze scheint nicht zu leben. Es ist still, nur der Kühlschrank surrt. Das blaue, winzige Pünktchen leuchtet. Wieder eine Nachricht.

 

Halbnackt liegt Ida auf dem Liegestuhl. Die Balkonblumen bieten Sichtschutz vor den Nachbarn. Die dunkle Sonnenbrille bedeckt ein Drittel ihres Gesichts. Spät war es geworden letzte Nacht, die noch nach Gin und Zigaretten schmeckt. Ida döst vor sich hin, auf ihrem Schoß eine Zeitschrift. Von Zeit zu Zeit greift sie nach ihrem Handy. Er meldet sich nicht. Sie fotografiert ihre Beine. So lange ist Stefan noch nie weg gewesen. 

 

Drei Wochen Urlaub, in wenigen Tagen ging ihr Flug. Er würde nicht mitkommen. Ob sie alleine fliegt? Stefan zappt durch die Programme und bleibt bei einer Kochshow hängen. Buntes Tuch im blonden Haar. Diese Tussi redet genauso dummes Zeug wie Ida. Es waren ihre Beine. Wie sonst hätte es so weit kommen können. Vernarrt in Idas Beine, das war eigentlich alles. Ihr naives Lachen. Die Klangschalen. Die parfumierte Wohnung. 

Stefan öffnet das Fenster, der Rollladen fliegt ihm entgegen, er flucht. Ein Baukran schwenkt in den Luftraum des angrenzendes Nachbargrundstücks. Im schmalen Innenhof ein blühender Garten. Mundgeblasene Rosenkugeln, wie sie seine Mutter hat. Ob sich Ida bei ihr melden würde? Sie kannten sich kaum. Oder bei seinem Bruder? Wie lange muss man abgängig sein ehe eine Vermisstenanzeige aufgegeben wird?

 

Was für eine Hitze. Seit Wochen hat es nicht geregnet. Sie wollten doch an den See fahren, wo bleibt er? Drei Stunden würde sie ihm noch geben, beschließt Ida, zunehmend wütend. Und dann seinen Bruder anrufen. Sie will hinein, rennt gegen das Fliegengitter und flucht. Im verdunkelten Schlafzimmer, auf seiner Seite, die rot leuchtende Anzeige des Weckers. 13:07. Männer liegen immer rechts, hat sie mal gehört. Sein Wecker, seine Sachen. Es ist doch alles noch hier. Oder. Sie ist müde. Ida zieht sich aus und legt sich hin. Nimmt Stefans Kopfkissen, riecht daran und drückt es an ihre Brust. Seine Abwesenheit pocht gegen ihre Schläfe, wird lauter: Du weißt doch, er ist weg. Er ist weg. Sie schluchzt, sie zuckt, wie ihre Klienten wenn sie einen Anfall haben. Ihr wird übel, sie steht auf, wankt ins Badezimmer und beugt sich über die Kloschüssel. Dieses elende rosa Gesöff, mit Heidelbeeren darin, nie wieder würde sie Heidelbeeren essen. Was, wenn er doch kommt, ausgerechnet jetzt. Ida versperrt die Tür von innen, bindet ihre Haare zurück und kotzt sich die Seele aus dem Leib. So sagt man doch. Seele. Wimmernd sackt sie auf den Boden. Wie eine Drogenkranke hockt sie da, legt sich auf das Badetuch, fühlt sich krank und elend. Er mag nicht wenn sie trinkt, wenn sie die halbe Nacht lang tanzt. Aber er hat es mal gemocht. Oder.

 

Sie würde ihn nicht finden. Nichts verbindet ihn mit dieser Kleinstadt. Nichts, es war Zufall, hier gelandet zu sein. Ohne sich die Wohnung vorher angesehen zu haben, hat er zugesagt. Hauptsache möbliert, er hat keine hohen Ansprüche, und vor allem keine Zeit sich einzurichten. Neben der Kaffeemaschine liegt eine handgeschriebene Notiz, fritzbox_gast3 lautet das WLAN Passwort, in einem Körbchen Kapseln in allen Farben, solche, aus denen Ida in der Behindertenwerkstatt Taschen bastelt. Schöne Schrift. Die Vermieterin lebt in einer anderen Stadt, Stefan hat sie nie persönlich getroffen. Per Post solle er ihr die unterschriebenen, vorausgefüllten Formulare schicken. Stefan gilt, drei Monate vorerst, als Feriengast. Steht da. Drei Monate. Hat er wirklich so lange zugesagt? Was zum Teufel würde er drei Monate lang hier machen?

 

Der kommt schon wieder, sagt Ralph. Mach dir keine Sorgen. Was täte der ohne dich? Ralph lacht, er hat Ida noch nie ernst genommen wie ihr scheint. Was das Ganze nicht besser macht. Sie schluckt die Tränen hinunter und legt auf. Kurz darauf ertönt ihr Handy, ein Sommerhit, etwas zu laut, der Klingelton war Stefan peinlich gewesen, doch sie mag dieses Lied. He, ich hab das ernst gemeint, sagt Ralph. Mach dir keinen Kopf, kennst ihn doch. Aber warum meldet er sich nicht? Warum ist er weg? Es ist nichts vorgefallen, gar nichts. Weißt du was? Hat er eine andere? Wieder schluchzt sie, Ralph stöhnt. Natürlich weiß er was. Geschwister wissen immer was, sie müssen gar nicht darüber reden, wissen sie was los ist. Aber wo er ist, das weiß auch Ralph nicht. 

 

Stefan geht in die Stadt, die aussieht wie aus einem Heimatfilm. Bunt beflaggt, in der Mitte des Platzes eine Pestsäule. Junge Paare sitzen auf den Bänken unter einer mächtigen Blutbuche, schlecken Eis. Kinder spielen Fangen. Ein Idyll, das ihm verdächtig ist. Stefan setzt sich in ein Café. Außer ihm ist niemand allein. Er holt sich eine Zeitung, die er vorgibt zu lesen. Was soll er hier machen. Die Online-Studienkurse finden erst im Herbst wieder statt. Er würde sich auf seine Prüfung vorbereiten. So, wie er das immer gewollt hat. Lernen, ohne Ablenkung. Sie hält mich vom Leben ab, denkt er. Und dass er andere Ziele habe.

 

Ida zündet das Teelicht an, das nach Lavendel duftet und die Gelsen abhalten soll. Über ihr der goldene Lampion, vor ihr die Dämmerung, der mit roten Schlieren durchzogene Himmel. Der fühlt sich wie ich, denkt sie. Von Hoffnung durchsetzte Traurigkeit. Wieder und wieder starrt sie auf ihr stummes Handy. Jedes Signal von jemand anderem. Ein lustiges Bildchen. Ein Wie gehts dir heut?? Wieder fit? Die zwischendurch abgesetzten Nachrichten an Stefan bleiben unbeantwortet. Immer sind sie hier gesessen, abends. Willst du noch Brot? – Ja gern. Aber bleib sitzen, ich hol es mir selbst. – So eine Hitze, immer noch. Fahren wir morgen an den See? – Der heißeste Sommer seit es Aufzeichnungen gibt. – Ich mag den Sommer. – Ich weiß. Mehr hat er darauf nicht mehr geantwortet. All ihre Gespräche sind im Sand verlaufen. 

 

Er hat vergessen, sich eine Zahnbürste zu kaufen. Am nächsten Morgen würde er in den Drogeriemarkt gehen. Stefan spült seinen Mund mit Wasser aus, wischt mit dem Zeigefinger über seine Zähne. Das frisch gemachte Bett, die zu weiche Matratze, das Nachtlämpchen, auf dessen Fuß man tippen muss, damit es angeht. An, aus, an, wieder aus. Er liegt da, in der Stille der Nacht. Er fühlt nichts, nicht mal seine Schulterschmerzen, und er denkt nichts. Dass sie ihn liebt, rührt ihn nicht. Liebe. Er kann mit dem Wort nichts anfangen. Ihre Vorstellung von Leben teilt er nicht. Ihre Taschen gefallen ihm nicht, ihr Job interessiert ihn nicht. Und was ihm früher an ihr gefallen hat, dafür schämt er sich. Nicht vor sich, sondern vor den anderen.

 

Sie schläft erst ein als er aufsteht, erst als durch die Jalousien Morgenlicht dringt. Stefan küsst sie, er lacht, was er im echten Leben schon lange nicht mehr macht. Sonne, Sand, sie verlieren sich. Ein wirrer Traum, aus dem sie Stunden später weinend erwacht. Arbeit, nein, sie hat doch Urlaub. Der Flug, in zwei Tagen … Sein Pass … Warum war ihr das nicht früher eingefallen. Ida geht zu Stefans Schreibtisch, oberste Lade. Sein Pass ist weg. Ihr Herz pocht und dieses Pochen füllt ihren ganzen Körper aus. Als hätte sie einen Betrug entdeckt. Sie ist nichts als ein pulsierendes Etwas. Wie damals, eine besoffene G`schicht, die sie ihm verziehen hat.

 

Irgendwann schreibt er ihr doch. Es sei ihm alles zu viel geworden. Mehr nicht. Warum er nicht mit ihr redet, fragt sie. Er könne das nicht beantworten, schreibt er. Und dass er sie nur schützen wolle. Mehr nicht. Schützen? fragt sie. Vor dir? Aber nein, denkt er. Ich mag dich. Aber du redest dummes Zeug und bist einfach nicht mein Typ. Das kann ich dir schlecht sagen oder. Ich wollte einfach weg. Machmal sind die Dinge so einfach wie sie aussehen.

 

Kurz vor Weihnachten, an der Supermarktkasse, meint sie, ihn durch die verschmierte Scheibe zu sehen. Ohne zu zahlen, die Waren am Fließband, läuft Ida hinaus. Stefan? Am Ende des Parkplatzes, zwischen Autos, dunkle Jacke, graue Mütze. Der Mann reagiert nicht. Stefan? ruft sie, rennt hin, er dreht sich um. Entschuldigung. Entschuldigung, murmelt Ida. Sie hat sich getäuscht. Sie sieht ihn überall. Im Wald, im Einkauszentrum, an der Tankstelle. Zuhause packt sie seine Sachen, Kleidung, Studienbücher und Toiletteartikel, die noch immer in einer Reihe auf dem Regal im Badezimmer stehen, in Müllsäcke. Dann fährt sie zu Ralph und stellt sie ihm vor die Tür. Du kannst mir nicht erzählen, dass du nichts weißt, sagt Ida. – Er ist in E. heißt es, einer Kleinstadt in Oberösterreich. Mehr weiß ich auch nicht. Wirklich.

 

 

(unveröffentlicht; August 2022)

(weil Wahlplakatzeiten; September 2022)

connection

 

zu räumen gespannte

schnüre knüpfen 

beziehungen lösen ~

eine revolution starten

blicke versenken 

flüchten wollen

verbunden / ein experiment

luftleer am wasser

sich berühren

 

(nach einer Performance von Karin Pauer, 10.9.2022)

Herbst

 

Langsam schiebt sich der Herbst

zwischen das Ich und die Welt 

 

Die Zugscheibe weint

Ich tu es ihr gleich

 

Ein Buch in der Hand

das vom Wildern spricht

 

Regen fällt auf den Asphalt

Wasserkringel in schmutzigen Pfützen

 

(August 2022)

Alpaka-Yoga

 

Vor ein paar Jahren, ich weiß nicht mehr wann, vor drei Jahren oder so, als wir den Roboter noch nicht hatten, da kam der Milchtankfahrer einfach so zu mir in den Melkstand. Ein netter Typ. Wir haben immer miteinander geredet wenn er die Milch geholt hat. Aber er kam an einem anderen Tag. „Was machst du denn da?" fragte ich ihn. "Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden“, sagte er. So hat alles angefangen.

 

Das könnten die ersten Sätze sein, dachte Hannes. Er stoppte die Aufnahme und legte das Handy zur Seite. Wie so oft führten ihn seine Gedanken woanders hin, nämlich zu Tanja und den Alpakas. Ihm war nicht wohl gewesen als Tanja ausgerechnet zu dem Zeitpunkt bei ihm einziehen wollte, als sich die Milchkrise bemerkbar gemacht hat. Aber was hätte er tun sollen. Natürlich wollte er sie hier haben, auch wenn er geahnt hat wie das alles ausgehen würde. Er rührte mit dem Holzstab die zu dickflüssige Farbe, dann leerte er ein wenig Wasser dazu und rührte wieder um. Nur noch eine Wand. Hannes verfluchte diese Arbeit, versuchte während des Ausmalens aber zumindest seine Gedanken zu ordnen und auszusprechen, zu welchem Schluss er in den letzten Wochen gekommen war. Spätestens morgen müsste er den Beitrag abschicken. Eine Tonaufnahme mit dem Handy würde genügen, hat die Redakteurin gemeint, und dass sie ja gerne persönlich für ein Interview vorbeigekommen wäre, aber die Pandemie – er wisse ja. Ihn störte das nicht, er hätte sich jetzt ohnehin nicht imstande gefühlt, Besuch zu bekommen. Eine Podcastfolge über das „Bauernsterben“, wie sie es nannte, und „Alternativen in der Landwirtschaft“ wollte sie gestalten, und im Zuge der Recherchen war ihr seine Geschichte zu Ohren gekommen. Ob er nicht etwas dazu sagen wollte, und nach anfänglichem Zögern war Hannes zum Schluss gekommen, dass er das wollte. Es war eine seiner Eigenarten, während der Arbeit Selbstgespräche zu führen, und nun würde das endlich Sinn machen. Von außen betrachtet könnte man meinen, das wäre traurig, wenn da jemand so ganz allein vor sich hin redete, doch half es ihm dabei, sich zu sortieren.

Immer häufiger wurde Hannes kontaktiert in letzter Zeit, von Medien und Kollegen, und um Rat gefragt. Als wüsste er, was zu tun wäre. Vielleicht weil er einen der ältesten Höfe in der Gegend bewirtschaftete. Aber die vermehrte Aufmerksamkeit, die seinem Hof galt, hatte auch mit den Alpakas zu tun. Alpakas, dachte er, die sind wie Delfine. Die ziehen immer. Würde er ehrlich sein, was diese Tiere betraf, die offenbar das waren, was man sich unter „landwirtschaftlicher Alternative“ gemeinhin vorstellte, würde er von den „Ökos“ allerdings „gekreuzigt“ werden, wie sein Kollege es genannt hat, und auch über Tanja, die sich das Ganze eingebildet hat, müsste Hannes reden, und das wollte er nicht. Er versuchte, nur das laut in sein Handy zu sprechen, was er auch wirklich nach außen tragen wollte. Das, was ihm wirklich wichtig war. Und das waren nicht die verdammten Alpakas, das waren seine Kühe. Am Abend würde er sich alles, was er aufgenommen hat, in Ruhe anhören, sich Notizen machen und das für die Episode Brauchbare noch mal einsprechen. Aber so, dass es nicht wie „Heruntergelesen“ klang, sondern „ganz natürlich“, so hat es die Redakteurin formuliert: „Ganz natürlich“ sollte es klingen. Aber der Reihe nach. Mit dem Milchtankfahrer hat alles begonnen. 

 

Gerade hat sich der Fahrer einen eigenen Tanklaster gekauft, oder geleast, was weiß ich. Aber die Molkerei hat sich entschlossen, die Milch in Zukunft selber zu fahren, die Subunternehmer wollten sie raus haben. Von einem Tag auf den anderen hat der seinen Job verloren. Und von da an wurde es für uns auch immer schwerer.

 

(...)

 

> Das ist der Beginn einer unveröffentlichten Erzählung aus der wachsenden Sammlung "Nachrichten aus der Provinz". Die Krise in der Landwirtschaft ist in der Milchviehhaltung mit am augenfälligsten, zumindest für Außenstehende. Im Bezirk Eferding gibt es nicht nur Gemüseanbau, sondern auch tierhaltende Betriebe. Trotz aller Realitätsbezüge ist die Erzählung frei erfunden. (2022)

Temperatur

 

Der heiße Tee

die indische Verwandtschaft

Langarm,

auch im Sommer

 

Es geht um Angleichung, sagen sie

Um Innen und Außen

Um die Spurenbreite, sagt der Schaffner

und reicht mir das Ticket.

 

(Lilo-Lyrics, August 2022)

spiegelung

 

in einer linierten landschaft sitzen

vorbei an matten kohlblättern

steinmauern und bauerngärten

morschen hochsitzen 

nie fertiggestellten rohbauten.

 

vorbei doch

 

sich hineinsehnen

in bunten gräsern liegen

mit den hasen hoppeln

im acker schwimmen

sich vergessen, nachts

 

(Lilo-Lyrics, August 2022)

Residencies Dialog

                          mit Verena Dolovai

 

Deutschheft

       nicht genügend

Peace

       Oh John!

Hast du das gewusst

       erzähl mehr

Letzte Nacht

       die Wand gespürt

Mondschatten und

       kein Liebhaber

In der Ecke

       ein totes Insekt

1000 Hertz pro Sekunde

       Stillstand

aber das Surren

       im Kopf

die Abwesenheit

       rettet und schmerzt

Ich liege da

       mit offenen Augen

keine Antwort

       und viele Fragen

die Raufasertapete

       kein Trend

drei Schichten übertünchtes Papier

       Maler und Anstreicher

Holzfaser Brailleschrift

       Schneckenhaus

Siehst du es auch

       Abendrot

-farben

       bunte Welt

ertasten

       langsam

streiche ich

       und plötzlich ein Vogel

lässt sich nieder

       fliegt wieder

unverfolgbar

 

 

"Residencies Dialog" ist der Titel einer WhatsApp-Gruppe von mir und Verena Dolovai. Sie ist Autorin und war im Juli Gastatelier-Stipendiatin in Bad Hall. Der Dialog wurde nicht redigiert. (Juli 2022)

Über Identität nachdenken ist wie in der Sauna sitzen. Kollektives Schwitzen. Platzangst. Atemnot.

 

(Sommer 2022)

auf die nasse dicke erde wird der schellack aufgetragen

(anselm kiefer)

 

da gibt es keine menschen

wolken

da braucht es keine menschen

regen

über unseren städten

gerechtigkeit

wird gras wachsen

 

erschienen in der aktuellen Ausgabe von litrobona / Sommer 2022

 

(O. T.), DIN A3, Öl auf Papier

(Alle sprechen von Identität. Juli 2022)

landschaft

 

mit eigenen augen seh ich die

vertraute landschaft vorbeiziehen

die bestellten felder

den klatschmohn in der junisonne

 

gehe vom bahnhof zur wohnung

vorbei an villen,

kaputten zäunen, 

auf gepflegten straßen

 

im innenhof sitzt olga, meine nachbarin

sie kann kaum gehen

spricht weder englisch noch deutsch,

kommt aus charkiw, der zweitgrößten stadt der ukraine

 

mit ihren augen seh ich

die landschaft

die bestellten felder

den klatschmohn in der junisonne

 

(Juni 2022)

Haltestelle

 

(Juni 2022)

ein nebel

ein jammern

ein lachen und

ein auto fährt vorbei

 

ein blick

ein zweiter

ein lächeln und

ein händedruck

 

(Begegnungen. 2022)

Sumpftarn

 

Den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt, blicke ich auf die immergleiche Landschaft und frage mich, wie das geht: ein Naturgedicht zu schreiben. Finstere Tannen – ja, sie sind finster, Trakl hatte recht – ziehen an mir vorbei. Dass sie vorbeiziehen, das sage nicht ich, das sagt man so. Ich sitze im Zug. Die Heizung wärmt meine Füße. Wäre ich auf Reisen, vielleicht könnte ich diesem Anblick etwas abgewinnen. Doch ich fahre zur Arbeit, und das, was ich sehe, langweilt mich. Denn ich sehe: nichts. Nichts außer karge Bäume, vertrocknetes Laub, finstere Tannen – oder sind es Fichten – und diese endlosen Äcker. Vor manchen Häusern Trampoline und abgedeckte Swimmingpools. Menschen sieht man auf dieser Strecke seltener als Tiere. Hasen, Fasane, manchmal ein Reh. 38 Hochstände habe ich auf meiner letzten Fahrt gezählt. Ein Mann steht reglos unter einem Dachvorsprung. Es regnet. (...)

 

(Der gesamte Text erscheint Mitte Juni 2022 in der Literaturzeitschrift "litrobona".)

Textbild (A4), Teil der aktuellen Ausstellung in TIGER LINE – Linz

ein ungebetener gast

 

in den hinteren reihen

ein fahnenträger

und stangenhalter

ein scharf gezogener scheitel

– anständig und ordentlich –

ein, schau, wie stramm er steht

mit seinem hut, dem schwarzen, 

aus dem er niemals ein kaninchen wird zaubern können

weil er keiner ist, der augen zum leuchten bringt.

der gast, der ungebetene

 

(Gestalten; Mai 2022)

LAND LEBEN

 

landleben

proberaum 

PUNK LEBEN

in kreide

auf der blechernen tür 

einer lagerhalle

zwischen C und A

und H und M

tanzen drogen

ihre proben

werden flaschen

in hohe wasser gepostet

droht absiedelung

ins zwischen gebiet

 

(Gegend; Mai 2022)

kinder

 

in den betten liegen kinder 

in den kleidern vom vortag.

auf dem nachttisch 

leere packungen medikamente.

ihre hände presst sie 

gegen die schläfen 

ihres verweinten, 

zuckenden gesichts.

statt frühstück gibt es wasser.

die augen der kinder sind verklebt.

bevor der älteste den kindergarten betritt, 

bleibt er stehen. streicht sich die haare glatt 

und knöpft sein hemd bis oben hin zu.

Karfreitag

 

Karfreitag, es regnet. Ich wache früh auf und ziehe mir einen Pullover über. Dann setze ich Kaffee auf. Die Kinder schlafen noch. Der Himmel ist gespenstisch weiß, davor die blattlosen Äste der Bäume. Eine Schneeflocke aus Papier hängt am Fenster und Luftballons vom letzten Geburtstag. Die Osterdeko liegt in Kisten, die Eier warten darauf, gefärbt zu werden. Der Geschirrspüler muss aus- und wieder eingeräumt werden. Ich hole den Laptop aus meinem Zimmer, setze mich an den Esstisch und lese die ersten Nachrichten. Russland droht, bei Nato-Beitritten von Schweden und Finnland mit nuklearer Eskalation im Baltikum. Ich google Kaliningrad, das sich an der Ostsee zwischen Polen und Litauen befindet. Irgendwie, vermutlich ist der Eferdinger Adels-Algorithmus schuld daran, stoße ich auf einen 2003 gehaltenen Vortrag von Otto Habsburg, in dem es erschreckend klar um Putin und die europäische Sicherheit geht. Die Kernaussage, damals: Wir haben keinen Grund, anzunehmen, dass Putin das, was er von sich gibt, nicht wahr macht. Auch Hitler habe in Mein Kampf alles vorhergesagt. Man musste nur das Buch lesen, um zu wissen, was kommen würde. Vor unseren Augen, vor meiner Tür, spazieren sie, die Patrioten, die Putin Freund*innen, die diese Gendersternchen so schön ärgern. Gegen Diktatur, wie sie sagen.

In Moscow police can stop and make a person to open a phone to check messangers. So, it is getting dangerous here. Since „they“ created a law against people who do not support the „action“. Like up to 15 years of sentence.

schreibt ein Bekannter aus Russland, der alle unsere Nachrichten auf Signal sofort löscht, nachdem er sie gelesen hat. Seitdem Menschen verhaftet wurden, weil sie sich aus Protest mit einem weißen Blatt Papier auf die Straße stellten, ist unsere Kommunikation ohnehin ein Eiertanz. Später lese ich nach, wie Bomben entschärft werden. Es bedarf Wissen, und Fingerspitzengefühl. 

Jetzt ist es neun, die Sonne kommt raus. Ich höre nackte Füße trippeln und lasse den anderen Part des Tages beginnen. Die Kinder, die Baustelle, die Osterdeko.

 

(Tagebuch, 15. April 2022)

nächster halt

   auf verlangen

 

zugestiegen

bist du leider nie

nächster halt erlangen

nächster halt auferlangen

nächster halt erlangen

nächster halt auf verlangen

immer wieder erlangen

zugestiegen

bist du aber nie

 

(eins der ersten LILO-Gedichte; lange her)

hamster

hamstern

sonnen

blumen

öl

pflanzen

sonnen

blumen

in den

vor

gärten

spenden

decken

oder

blut

sprechen über

helden

und die frage

was ist mut

über mann sein

frauen sind 

mütter, immer,

hygieneartikel

und konserven 

werden benötigt

geerntet werden 

müssen die 

gurken

 

(März 2022)

gegen den krieg

 

einander

dem krieg entgegen 

 

was 

dem krieg entgegnen

 

gegen den krieg

 

(3.3.2022)